Helmut Schomaker und der „Rinkieker“
Den größten Teil seines Lebens hatte Helmut Schomaker im nördlichen Ruhrgebiet verbracht, bevor er 1973 nach Rees zog. Dort prägte der Journalist und Fotograf in den nächsten 16 Jahren das gesellschaftliche Leben in der Rheinstadt wie kaum ein anderer Zugereister. Die Wochenzeitung „Rinkieker“, die er 1978 mit dem Verleger Werner Wins aus der Taufe hob, genießt bis heute Kultstatus in der Reeser Presselandschaft. Helmut Schomakers Kinder, Ute und Michael, teilten mit dem Reeser Geschichtsverein RESSA ihre Erinnerungen an den Vater.
„Ich sage immer: Schomaker ist alter holländischer Landadel“, scherzt Michael Schomaker. „Unser Großvater, Petrus Johannes, war Zeit seines Lebens Holländer. Es gab mal ein Schriftstück, mit dem er Mitte oder Ende der 30er-Jahre für seine Kinder die deutsche Staatsbürgerschaft beantragte, damit sie, wie es damals hieß, dem deutschen Volke dienen konnten. Aber der Opa blieb Holländer.“
Am 2. Januar 1924 brachte die aus Dülmen stammende Schneiderin Klara Schomaker, geborene Breuer, in Marl-Hüls einen gesunden Jungen zur Welt. Es war der dritte Sohn der Eheleute, doch sechs Wochen nach Helmuts Geburt verunglückte einer der Brüder im Alter von zwei Jahren tödlich. Später wurde eine Tochter geboren.
„Unser Vater wuchs als mittleres Kind und als Liebling seiner Mutter auf“, weiß Ute Schomaker aus Erzählungen. Helmut Schomaker besuchte die katholische Josefschule in Marl. Die Volksschule verließ er mit guten und sehr guten Noten. Da schon der Vater und der Bruder im Bergbau arbeiteten, folgte auch er diesem Beispiel. Am 1. Juni 1938 begann er auf der Zeche Auguste Victoria als Laufjunge, ließ sich anderthalb Jahre zum Markscheider und schließlich zum Bergvermessungstechniker ausbilden.
Am 1. November 1943 wurde Helmut Schomaker vom Wehrbezirkskommando Recklinghausen zur Luftwaffeneinheit nach Crailsheim einberufen. Kurze Zeit später wurden er und seine Kameraden nach Eindhoven in den Niederlanden verlegt. Weitere Stationen war Cherbourt in Frankreich und die Flugschule in Danzig. Nach der Ausbildung zum Flugzeugführer wurde er zu einer Fallschirmpioniereinheit in den Niederlanden verlegt. „Das Fliegen war auch später noch eine große Leidenschaft unseres Vaters“, erzählt Ute Schomaker.
Im Mai 1945 geriet Helmut Schomaker in englische Kriegsgefangenschaft. Durch Hunger und Krankheit nahm er in dieser Zeit stark ab. Er führte Tagebuch und ergänzte seine handschriftlichen Notizen um Zeichnungen, Gedichte und gepresste Blumen. Über seine Erinnerungen an das erste Osterfest in Kriegsgefangenschaft verfasste er 30 Jahre später einen Zeitungsbericht:
„Man schrieb das Jahr 1946, ich war damals 22 Jahre, war froh, den Krieg halbwegs heil überstanden zu haben und wartete nun schon fast ein Jahr darauf, endlich auch durch jenes Tor treten zu können, welches mich noch von der endgültigen Freiheit trennte. Ich saß in der Lüneburger Heide hinter Schaldraht ein und hatte bis kurz vor Ostern noch keinerlei Verbindung zur Außenwelt aufnehmen können. Nur etwa 250 Kilometer entfernt warteten Eltern und Geschwister ebenso sehnsüchtig auf ein Lebenszeichen von mir, wie es umgekehrt der Fall war. Wenige Tage vor Ostern kamen Glück und Zufall zusammen. Ich konnte eine Karte mit meiner Anschrift nach draußen schmuggeln und wartete nun natürlich stündlich auf eine Nachricht, ein Zeichen von daheim.“
Weiter schrieb er: „Ostern war fast vorbei, wir löffelten Ostermontag die dünne Suppe, da wurde ich zum Kommandanten gerufen. Da stand sie vor mir, meine Mutter, klein und zart, wie sie war, hielt ein Päckchen in der Hand, und keine Macht der Welt hätte uns hindern können, uns in die Arme zu fallen. Mit einem Gütertransportwagen der Bahn und unter den grausamsten Bedingungen hatte sie die Osterreise auf sich genommen. Zehn Minuten ließ man uns miteinander reden, dann trennte man uns – und es waren doch die schönsten Ostern meines Lebens.“
Anfang 1947 wurde Schomaker aus der Kriegsgefangenschaft entlassen. Er kehrte nach Marl zurück und arbeitete zehn Jahre lang als Bergvermessungstechniker. In dieser Zeit wuchs auch sein politisches Engagement. 1953 ließ er sich im Wahlbezirk 24 (Lenkerbeck-Sinsen) für das Kreisparlament aufstellen. Die Wahlzeitung schrieb damals über ihn: „Trotz seiner Jugend – er ist der jüngste CDU-Kandidat für das Kreisparlament – verfügt er über ein relativ hohes Maß an kommunalpolitischer Erfahrung, das nicht zuletzt aus einem außerordentlich großen Interesse an allen Problemen des gemeindlichen Lebens, stark ausgeprägter Lernbegier und lobenswertem Fleiß resultiert.“
Aus einer Liste, die Schomaker an die Bundesknappschaft schickte, geht hervor, dass er von 1957 bis 1962 erstmals als freier Journalist arbeitete. Dieser Tätigkeit als Sportreporter ging er auch dann noch nach, als er hauptberuflich Autos verkaufte, unter anderem als Verkaufsleiter beim Autohaus Borgmann in Marl. „Unser Vater schrieb vor allem über die Heimspiele des Fußballvereins TSV Marl-Hüls“, sagt Ute Schomaker. „In dem Stadion gab es eine eigene Pressetribüne. Wir durften dort als Kinder mit sitzen und fanden das toll. Später gab er seinen Bericht von zu Hause aus telefonisch an die Redaktion der Marler Zeitung durch. Wir mussten dann ganz leise sein.“
1970 starb Helmut Schomakers Frau. Die Ehe mit einer Reeser Witwe führte dazu, dass der Witwer mit seinen Kindern 1973 an den Niederrhein zog. „Zunächst hat er hier Versicherungen verkauft“, sagt Michael Schomaker und fügt hinzu: „Das war überhaupt nicht sein Ding.“ Die berufliche Durststrecke endete, als Helmut Schomaker im Jahr 1977 wieder journalistisch aktiv wurde, unter anderem für die NRZ in Rees. Sein Kürzel wurde auch sein Spitzname: „Schomi“. Dass der frühere Sportreporter immer öfter über kommunalpolitische Themen schrieb, fand schnell Niederschlag in der „Reeser Bild“, einem vierteljährlich veröffentlichten Informationsblatt der SPD, zu dessen Redaktion auch der spätere „Rinkieker“-Verleger Werner Wins gehörte.
In der letzten Ausgabe des Jahres 1977 schrieben die Genossen über den neuen NRZ-Mann: „Im Lokalteil der Zeitung mit dem grünen Schriftzug tummelt sich seit längerem ein lebhafter Schreiberling, bei Reesern bekannt als Schomi. Witzige Kommentare und Artikel mit oft schmerzhaften Nadelstichen machen die morgendliche Zeitungslektüre zu einem anregenden Ereignis. Oft genug erfährt man Dinge, von denen an sich nur einige Eingeweihte wissen sollten – aber wieder hatte Schomi zugeschlagen. Einer seiner Wahlsprüche lautet denn auch: Dinge, die von mehr als zwei Personen besprochen werden, erfahre ich spätestens eine Stunde später. Also, Reeser, aufgepasst bei lockeren Gesprächen im Freundeskreis!“
Weiter heißt es: „Bei manchen Artikeln von Schomi hat der unbefangene Leser den Eindruck, dass hier jemand seine eigene Politik zu machen versucht. Das hat mit dazu beigetragen, das Schomi seit einigen Tagen leider nicht mehr für Reeser aus Rees berichtet. Er hat ein anderes journalistisches Tätigkeitsfeld im Klever Raum gefunden. Lose Zungen behaupten, das sei die Quittung für seine politische Berichterstattung. Dem Zeitungsleser bleibt nur Bedauern, dass die Zeitungslektüre wieder an Spannung verloren hat.“
Tatsächlich waren Helmut Schomakers Berichte vorübergehend nur auf der linken Rheinseite zu lesen. Als freier Mitarbeiter der „Klever Nachrichten“, einem kostenlosen Wochenblatt für Kleve, Bedburg-Hau, Kranenburg und Kalkar, schrieb er ab November 1977 im Auftrag des Grafischen Betriebs H.W. Janssen in Kleve. Doch hinter den Kulissen arbeitete „Schomi“ bereits daran, bald wieder im Reeser Journalismus und Politgeschehen mitmischen zu können.
Das große Jubiläumsjahr 1978 warf seine Schatten voraus. 750 Jahre zuvor hatte Rees die Stadtrechte verliehen bekommen. Die Stadtverwaltung und insbesondere der Verkehrs- und Verschönerungsverein, aber auch viele weitere Vereine, Verbände und Geschäftsleute planten für Mai 1978 eine Festwoche, wie sie Rees noch nicht erlebt hatte. Mit einigen der Organisatoren war Helmut Schomaker eng befreundet: Den VVV-Vorsitzenden Rolf Albring kannte er von Tennispartien beim TC Blau-Weiß Rees, den Wirt Auwi Dresen von vielen Abenden in der Fährstube des Rheinhotels, dem „heimlichen Rathaus“ der Stadt Rees.
Das Umfeld der 750-Jahr-Feier war wie geschaffen für ein neues und durch Werbeanzeigen finanziertes Wochenblatt, das ausschließlich Reeser Themen aufgreifen sollte. Helmut Schomaker wollte sich als Redakteur, Fotograf und Kommentator einbringen, in dem aus Emmerich stammenden Verleger Werner Wins fand er den richtigen Mann, der seine eigene Druckerei, die notwendige Erfahrung und auch einen griffigen Namen für das kostenlose Wochenblatt mitbrachte: „Rinkieker“, eine Wortschöpfung aus dem Reeser „Rhinkieker“, der auf den Rhein guckt, und dem „Rinkieker“, der in die Köpfe und Stuben der Reeser blickt, aber auch auf die Finger der Lokalpolitiker schaut.
Am 28. April 1978 erschien der erste „Rinkieker“ in einer Auflage von 5.500 Exemplaren. Zunächst nur vier Seiten dünn, wandte sich das Blatt an die Bürger von Rees, Haldern, Haffen-Mehr und Millingen. Herausgeber Werner Wins und Redakteur Helmut Schomaker erklärten in ihrer Einleitung: „Einmal wöchentlich und das immer wieder freitags wollen wir über die Neuigkeiten der Woche berichten. Freud und Leid werden wie im Leben nebeneinander stehen. Es wird auch ein bisschen getratscht und geklatscht, nie aber wird es bösartig gemeint sein.“
Fortan waren Helmut Schomaker und der „Rinkieker“ untrennbar miteinander verbunden. „Schomi“ wollte kein neutraler Journalist sein, der mit seiner Meinung hinterm Berg hält. Im Gegenteil: Seine Berichte, seine Fotos und natürlich seine (beliebten wie gefürchteten) Kommentare trugen unverkennbar eine ganz persönliche Handschrift. Was freitags im „Rinkieker“ stand, war am Wochenende Stadtgespräch. „Für uns war es teilweise schrecklich, zur Schule zu gehen“, sagt Ute Schomaker. „Wir wurden oft gefragt, wie es unser Vater denn bloß wagen könne, so etwas zu schreiben. Ich habe dann immer gesagt: Da müsst Ihr Euch direkt an meinen Vater wenden.“
Auf der anderen Seite brachte der „Rinkieker“ den Schomaker-Kindern auch Vorteile. Michael Schomaker gehörte zu den Austrägern der Zeitung und verteilte sie per Mofa in Groin und Aspel bis Androp: „Es gab nur wenige Pfennige pro Zeitung, aber ich habe richtig gute Trinkgelder bekommen, wenn ich die Zeitung persönlich an der Haustür abgeliefert habe. Jede Woche zwischen zehn und 20 Mark, vor Weihnachten über 100 Mark.“ Als Ferienjob machte Michael Schomaker auch Pressefotos bei Schützenfesten oder Hochzeiten. Schwester Ute kam gelegentlich als Model für Werbeanzeigen zum Einsatz.
Wieviel Zeit Helmut Schomaker in den „Rinkieker“ investierte, lässt sich mit Zahlen belegen: In der 79. „Rinkieker“-Ausgabe schrieb er, dass er gerade den 1000. Termin wahrgenommen habe. In einer anderen Ausgabe schrieb er von einer 90-Stunden-Arbeitswoche, an anderer Stelle gab er an, allein am zurückliegenden Wochenende im Reeser Einsatzgebiet 132 Kilometer zurückgelegt zu haben, um über Schützenfeste und Sportereignisse zu berichten. Verleger Werner Wins lobt rückblickend die Arbeitsbereitschaft des Redakteurs: „Als Schomi das Blatt machte, war er immer da. Selbst wenn er krank war oder Urlaub auf Juist machte, lieferte er noch Texte ab.“
Schomaker schrieb seine Texte immer erst am Donnerstag, im Verlagsgebäude in der Falkenstraße. „Wir mussten ihm teilweise die Blätter aus der Schreibmaschine reißen, damit wir endlich fertig wurden“, sagt Werner Wins. Helmut Schomaker gab im „Rinkieker“ regelmäßig Einblicke in den Produktionsalltag in der Falkenstraße. „Es herrscht ein witzig-frivoler Ton untereinander, nicht frei von Ironie, aber darum umso köstlicher“, kommentierte er das gute Arbeitsklima. Bernd Blume begann als Reprograf und wurde Chefgrafiker des Blattes. Eberhard Flanz aus Anholt bediente die Fotosetzmaschine, Hans Thiel aus Millingen war für den Bereich Reproduktion verantwortlich, später gehörten auch Georg Thuis aus Emmerich und Gerd Küster aus Bienen zum Team.
Rita Wins, Gattin des Verlegers Werner Wins und seit 1957 Verwaltungsangestellte im Reeser Rathaus, verstärkte die Männertruppe oft an Donnerstagabenden, um letzte Texte im Akkord zu tippen, damit die Rotationspresse in der Nacht endlich anlaufen konnte. Die ersten 137 Ausgaben wurden in den Räumen der alten Empeler Schule auf vorgefertigten Papierbögen gedruckt, die am Freitagmorgen noch von sechs geringbeschäftigten Frauen geknickt und zusammengelegt werden mussten. Eine Firma aus Duisburg sorgte dann für die Verteilung der Zeitungen an Reeser Haushalte und Geschäfte. Ab Januar 1981 wurde der „Rinkieker“ bei der Emmericher Reprotechnik GmbH in der Ostermayerstraße gedruckt.
Helmut Schomaker schrieb seine Berichte und Kommentare, so wie er sprach und wie ihm der Schnabel gewachsen war. Da war auch Kritik an Bürgermeister Josef Tasch vorgesehen. Ein Beispiel: „Es gibt Ämter, die verführen“, stand in der Rubrik „Stadtgeflüster“. Denn: „Am Westring wurde vor dem Haus des Reeser Bürgermeisters eine dort stehende Litfaßsäule auf dessen Wunsch entfernt, weil sie sichtbehindernd war. Bäume wurden gefällt, weil die Blätter in den Garten des Bürgermeisters fielen. Ich kann mich manchmal nicht genug wundern!“ Das leicht angespannte Verhältnis zum Reeser Bürgermeister erklären sich Ute und Michael Schomaker auch damit, dass die Familie Tasch mit Helmut Schomakers zweiter Ehefrau befreundet war, von der sich Schomaker inzwischen hatte scheiden lassen. Damit einher ging ein Umzug des Vaters und der zwei Kinder von Rees nach Groin.
Richtig sauer reagierte „Schomi“, wenn im schönen Rees unschöne Dinge passierten. Sei es, weil Häuser verfielen oder Hecken nicht geschnitten wurden, sei es, weil „Vandalen“ einen jungen Baum umknickten oder „die Jugend“ Häuserwände oder Straßenschilder mit Graffiti beschmierte. Dann rechnete er in seinen Kommentaren mit einer ganzen Generation ab: „In der Verhätschelung der Jugend und der gleichzeitigen damit fast zwangsläufig einhergehenden Missachtung der Erwachsenen scheint mir ein Grundübel zu liegen, das leider viel zu wenig erkannt wird. Eine gehörige Tracht Prügel, absoluter Konsumverzicht und nicht der Gang zum Psychiater – so sollte man vorgehen. Vernünftig miteinander zu reden sollte dabei nicht vergessen werden.“
Beim schwachen Geschlecht schmolz Helmut Schomaker, der insgesamt viermal verheiratet war, dagegen schnell dahin: Irgendwann führte er die Rubrik „Schöne Frauen“ ein und zeigte auf jeder Titelseite Fotos von Reeserinnen auf Schützenfesten oder beim Einkaufen. Die Serie habe ihm „persönlich Freude gemacht“, schrieb er, als er diese Reihe schon nach kurzer Zeit beenden musste: „Ich versuche sogar Verständnis für jenen Mann aufzubringen, der mir in einem Brief schrieb, ich möchte die Damen doch etwas angezogener zeigen.“
Ute und Michael Schomaker sind sich sicher, dass die „Rinkieker“-Zeit für ihren Vater „ein prägendes Kapitel“ und dass diese drei Jahre „seine glücklichsten Jahre“ waren: „Er war bekannt wie ein bunter Hund und konnte seine Meinung äußern. Wenn er irgendwo auftauchte, hatten die Leute Respekt vor ihm.“ Die Vielzahl der Berichte über den Tennisclub Blau-Weiß Rees und die vielen Aktivitäten des Verkehrs- und Verschönerungsvereins belegen, wie sehr Helmut Schomaker diese beiden Vereine schätzte. Schützenfeste waren für ihn willkommene Pflichttermine, aber er besuchte sie nicht aus persönlicher Überzeugung: „Er hat zwar, wie viele andere seiner Generation, nie mit uns über seine Erlebnisse im Zweiten Weltkrieg gesprochen, aber wir wussten, dass unser Vater nie wieder freiwillig eine Uniform anziehen würde“, sagt Michael Schomaker. „Ich erinnere mich, dass ich als Kind in Marl ein Spielzeuggewehr gekauft habe. Das gab einen Riesenaufstand. Ich musste es noch am selben Tag in den Laden zurückbringen. Alles, was mit Waffen und Uniformen zu tun hatte, war bei uns zu Hause tabu. Ich bin mir sicher, dass unser Vater oft gefragt wurde, ob er nicht diesem oder jenem Schützenverein beitreten wolle, aber er wäre niemals Schütze geworden.“
Innerhalb von zwei Jahren stieg die Auflage der Zeitung von 5.500 auf 9.000 Exemplare pro Woche. Journalistisch war der „Rinkieker“ ein großer Erfolg, kaufmännisch eher nicht. Zu klein war der mögliche Anzeigenmarkt in Rees und den Ortsteilen. Schomakers Tenniskollege, der Optiker- und Uhrmachermeister Heinz Belting, schaltete ab der ersten Ausgabe Anzeigen im „Rinkieker“, gehörte damit aber zu einer kleinen Minderheit von Reeser Geschäftsleuten. Mehr als einmal merkte Helmut Schomaker in seinen Kommentaren kritisch an, dass die Zukunft des Blattes von gewerblichen und privaten Anzeigen abhängig sei.
Die ersten 145 „Rinkieker“-Ausgaben trugen Helmut Schomakers unverkennbare Handschrift. Am 6. März 1981 fehlten dann plötzlich sein Name, sein Porträtfoto, sein Kommentar und seine Berichte. Im Februar 1981 war Verleger Werner Wins Gesellschafter im Köster Verlag in Kevelaer geworden. Weitere Gesellschafter waren Jörg Grahl und der kurz zuvor bei der „Rheinischen Post“ in Ungnade gefallene Journalist Martin Willing, der fortan den „Rinkieker“ mitgestalten sollte.
Helmut Schomaker war angeboten worden, weiterhin für das Blatt zu schreiben. Allerdings sollten die lokalpolitischen Berichte künftig von Martin Willing verfasst werden, während „Schomi“ die Feiern, Jubiläen und andere gesellschaftlichen Ereignisse abdecken sollte. „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ihm das gereicht hätte“, sagt Ute Schomaker. „Er war der Rinkieker. Er hat sich in seiner Kolumne und in seinen Kommentaren ausgetobt in jede Richtung.“
Warum genau Helmut Schomaker den „Rinkieker“ verließ, hat er seinen Kindern nie erzählt. Fortan konzentrierte er sich auf die Arbeit für das „Klever Wochenblatt“, das im Mai 1980 aus den „Klever Nachrichten“ hervorgegangen war und in der Westdeutschen Verlags- und Werbegesellschaft mbH Essen erschien. In seiner Wahlheimat Rees trat Helmut Schomaker journalistisch nie wieder in Erscheinung. Seinen Einfluss wusste er dennoch geltend zu machen: „Als wir 1981 von Groin wieder nach Rees zogen, war die Kopernikusstraße eine einzige Schlammwüste“, erinnert sich Michael Schomaker. „Da hat unser Vater den Stadtdirektor Gerd Bollwerk in der Stadt getroffen und ihn nach einer kurzen Unterhaltung zum Kaffee bei uns eingeladen. Den Wagen hat er dann extra so geparkt, dass Herr Bollwerk beim Aussteigen direkt in eine Pfütze getreten ist. Die Kopernikusstraße wurde danach relativ schnell fertiggestellt.“
Ohne „Schomi“ war der „Rinkieker“ nicht mehr der alte. Ausgerechnet in diese Umbruchzeit fiel dann auch noch die Umstellung vom kostenlosen Anzeigenblatt zur Bezahlzeitung: Der „Rinkieker“ kostete bald eine Mark im Laden oder 85 Pfennig im Abonnement inklusive Lieferung nach Hause. Damit verprellte das Blatt seine bisherigen Stammleser umso mehr. „Ich denke, die Leute vermissten Schomakers lockeren Schreibstil“, sagt Werner Wins. „Er war überall bekannt und überall gern gesehen. Martin Willing, der neue Redakteur und Mitherausgeber, musste sich erst in Rees einleben, was aber schwer war, weil er in Kevelaer saß und sein ganzes Engagement in die dortige Wochenzeitung investierte.“
Die Auflage des „Rinkiekers“ sank von 9000 auf 4000 Exemplare, was am Ende noch mehr Anzeigenkunden abschreckte. Im Januar 1982 stieg Werner Wins aus der Köster-Verlag GmbH aus und brachte den „Rinkieker“ ab der 182. Ausgabe wieder in Eigenregie heraus. Der Kaufpreis sank von einer Mark auf 70 Pfennig. Neuer verantwortlicher Redakteur wurde Werner Vogel, ein 23 Jahre junger Student aus Kleve. Als am 30. April 1982 der letzte „Rinkieker“ erschien, stand in dieser 202. Ausgabe kein Wort von Werner Wins‘ Entscheidung, das Reeser Wochenblatt einzustellen. Bestimmende Themen waren vielmehr der Abschied von Kaplan Heinrich Bischoff, das zehnjährige Jubiläum der Jugendfeuerwehrgruppe Haffen-Mehr und ein Verkehrsunfall auf der Rheinbrücke Rees-Kalkar mit drei Todesopfern.
Helmut Schomaker arbeitete bis 1988 für das „Klever Wochenblatt“. Kurz vor dem 2. Januar 1989, seinem 65. Geburtstag, ging er in den Ruhestand. Es gibt das Gerücht, er habe am 28. Mai 1989, als er gerade aus dem Griechenland-Urlaub zurückgekehrt war und in Tenniskleidung zum Tanken bei Auto Messink vorfuhr, gesagt: „Irgendwann sterbe ich auf dem Tennisplatz.“
Drei Tage später brach Helmut Schomaker auf dem Tennisplatz des TC Blau-Weiß zusammen. Seine Sportkollegen leisteten erste Hilfe, und obwohl er schnell zum Reeser Krankenhaus gebracht wurde, war sein Leben an jenem Mittwoch, dem 31. Mai 1989, nicht mehr zu retten. Die Beisetzung erfolgte später in Marl – wo Helmut Schomakers Leben am 2. Januar 1924 begonnen hatte.
In der 116. Ausgabe vom „Rinkieker“, die am 26. Juli 1980 erschien, hatte sich Helmut Schomaker erstmals mit einem möglichen Abschied vom Reeser Wochenblatt beschäftigt: „Eines Tages, ich bin darin ziemlich sicher, wird ein anderer an dieser meiner Rinkieker-Stelle sitzen. Von der Zeit der Pension bin ich nicht weit entfernt. Dann werde ich all jene kleinen Notizen zur Hand nehmen, die nicht im Rinkieker erschienen sind, aber in einem Büchlein über Rees Platz finden werden.“
Mancher Lokalpolitiker dürfte froh gewesen sein, dass dieses angekündigte Büchlein über Rees nie erschienen ist. Doch für die große Masse der Leserschaft ist es sicherlich ein großer Verlust, dass Helmut Schomakers früher Tod diese unverblümte und süffisant kommentierte Abrechnung mit der Reeser Politik und Gesellschaft verhindert hat.
Text © Michael Scholten / Reeser Geschichtsverein RESSA




















